Das Kapital im 21. Jahrhundert by Piketty Thomas

Autor:Piketty, Thomas
Die sprache: deu
Format: epub, mobi
ISBN: 9783406671326
Herausgeber: C.H.Beck
veröffentlicht: 2014-10-14T04:00:00+00:00

Grafik 9.8.: Der Anteil des obersten Dezils am Nationaleinkommen war 1900–1910 in Europa höher; 2000 bis 2010 ist er hingegen in den USA deutlich höher. Quellen und Reihen: siehe piketty.pse.ens.fr/capital21c.

Errechnet man (etwas missbräuchlich) ausgehend von diesen vier Ländern einen Mittelwert für Europa, so fällt der Vergleich zwischen den beiden Kontinenten besonders deutlich aus: die Ungleichheit in den Vereinigten Staaten war von 1900 bis 1910 schwächer, von 1950 bis 1960 etwas stärker, und von 2000 bis 2010 sehr viel stärker als in Europa (siehe Grafik 9.8).[26]

Jenseits dieser allgemeinen langfristigen Entwicklung gibt es selbstverständlich zahlreiche nationale Sonderverläufe mit interessanten kurzfristigen und mittelfristigen Schwankungen, die insbesondere mit den Besonderheiten der sozialen und politischen Entwicklungen in den einzelnen Ländern zu tun haben, wie wir in unserer detaillierteren Analyse des Wandels der Ungleichheiten in Frankreich und den Vereinigten Staaten im letzten Kapitel sehen konnten. Wir können eine solche Analyse hier nicht für jedes einzelne Land vorlegen.[27]

Erwähnen wir nur, dass die Zwischenkriegszeit sich praktisch überall als besonders tumultuös und chaotisch darstellt, auch wenn die Chronologien von Land zu Land variieren. In Deutschland folgte die Inflation rasch auf die militärische Niederlage, ein paar Jahre später ergreifen die Nationalsozialisten die Macht, nachdem die globale Depression das Land in die Krise gestürzt hat. Bemerkenswert ist, dass der Anteil des obersten Perzentils zwischen 1933 und 1938 in Deutschland, ganz anders als in den anderen Ländern, stark zunimmt. Darin spricht sich nicht nur die Erholung der Industriegewinne aus (angekurbelt durch den Waffenbedarf des Staates), sondern die für die Zeit des Nationalsozialismus charakteristische Wiederherstellung der Einkommenshierarchien. Halten wir auch fest, dass für Deutschland seit den 1950er Jahren ein Niveau des obersten Perzentils – und vollends des obersten Tausendstels – charakteristisch scheint, das deutlich höher liegt als in den meisten anderen europäischen Ländern (insbesondere höher als in Frankreich) und in Japan, während das Niveau der Ungleichheit insgesamt sich kaum unterscheidet – ein Phänomen, für das es eine Reihe möglicher Erklärungen gibt, zwischen denen sich nur schwer eine Entscheidung treffen lässt (wir kommen darauf zurück).

In diesem Zusammenhang muss auch betont werden, dass die Daten der deutschen Finanzbehörden gravierende Lücken aufweisen, die sich größtenteils der bewegten Geschichte des Landes im 20. Jahrhundert verdanken und es erschweren, Licht ins Dunkel aller Entwicklungen zu bringen und exakte Vergleiche mit den übrigen Ländern anzustellen. Die Einkommensteuer wird in den meisten deutschen Staaten relativ früh eingeführt – seit den 1880er Jahren –, namentlich in Preußen und in Sachsen. Aber die Gesetzgebung wird ebenso wie die Steuerstatistiken erst am Vorabend des Ersten Weltkriegs für ganz Deutschland vereinheitlicht. Danach weisen die statistischen Quellen häufige Brüche in den 1920er Jahren auf, bevor sie von 1938 bis 1950 komplett ausfallen, so dass es unmöglich ist, die Entwicklung der Einkommensverteilung während des Zweiten Weltkriegs und der Zeit gleich nach dem Krieg zu erforschen.

Darin unterscheidet sich Deutschland deutlich von den anderen Ländern, die stark in den Konflikt involviert waren, namentlich von Japan und Frankreich, deren Steuerbehörden während der Kriegsjahre nicht aufgehört hatten, die gleichen statistischen Auswertungen vorzunehmen wie zuvor, ohne jede Unterbrechung, als sei nichts geschehen.

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